Rezension: Mein zu großes Auge. Gedichte.

Von: Elise Guignard "Ungeeignet zur Dressur". Gedichte von Bernd Wagner. Neue Zürcher Zeitung, 9. Januar 1989

Die Verse sind beidem zugehörig, der Angst und der Hoffnung:
IN MIR:

zwei Vögel
Scheinbar herrschend
die rotstarrende Eule Angst
umkrallend
das was man Seele nennt 
...
...
Nachts renn ich mir Verse aus den Rippen:
Gewöll der Eule Angst
...
...
... meine Eule Angst
die angstvereist selbst
vor der weissen Rivalin Taube Hoffnung
fliehend nun

Die Verse lösen die Seele aus den Krallen. Die Angst vereist, sie flieht vor der weissen Taube Hoffnung. Das Gedicht entsteht aus innerer Not; seine Entstehung ist einem Befreiungsakt gleichzusetzen. Diese allgemeinen Bemerkungen gelten für jedes Gedicht des Lyrikbandes "Mein zu grosses Auge" von Bernd Wagner. Die Angst, das Grausame, das Gewalttätige, das Böse wird konkret benannt; es wird gesagt, wie Hoffnung, Freude, Liebe in der Lebenswirklichkeit erscheinen.
Aus dem Bereich des Nachtvogels und des Tagvogels rennt sich der Dichter Verse aus den Rippen. Eine ungewohnte Metapher für das Schreiben; als Gewöll "hingespieen" werden die Worte, spontan aufs Papier. Rasch folgen die Einfälle, einer nach dem anderen, doch sie werden beschnitten, oft bis zur knappen Zeit- oder Ortsangabe. Ein Frühlingsgedicht mit dem Titel "Zweiter milder Abend" fängt an: "Und die Bäume / runden sich wieder aus ihrer /fahlen Verzweigtheit besonders / die Linden / greifen um sich." In der Mitte dann: "Erstmals wieder Feierabend / auf der Strasse die Kinder / bis Neun." Und die letzten zwei Zeilen: "Doch vorerst: ich schlafe wieder bei / offenen Fenstern." Dieses Gedicht ist das einzige von fast hundert aus den Jahren 1970 bis 1988, in welchem kaum ironische Zwischentöne hörbar sind, das einzige ohne Bitternis und ohne Klage. Aber auch dieses "Stück" trägt den persönlichen "Wagnerschen" Stil: der Text ist gestaltet als Wechselspiel der Redeweisen. Sich Rundendes, Umsichgreifendes, auf Vokalwiederholung Gestimmtes wird unterbrochen mit nüchternen Feststellungen. Nach der meteorologischen Angabe im Titel "Zweiter milder Abend" beginnt das Gedicht zu klingen bis zum ersten sachlichen Einschub, danach geht das Singen weiter bis zum nächsten Einbruch und schließt mit der banalen Gewissheit, von nun an wieder bei offenen Fenstern schlafen zu können.
Der Redewechsel verstärkt die Aussage der Gedichte, in denen die Motive Hoffnung und Angst ineinandergreifen. Heiteres und Düsteres erscheint trügerisch nahe, vorerst gar nicht unterscheidbar. Im Mailied reimen sich beispielsweise "Begrüssen" und "begiessen". Der Gruss gilt dem "grünen Tag". Begossen aber wird auf den "Höfen des Friedens", das Wasser dringt in die Poren der Toten, und alles Gras der Erde wächst ihnen aus Nasen und Ohren und "kitzelt an unseren nackten, befreiten Füssen". Ein surreales Bild für Tod und Leben. Kein bedrückendes jedoch. Die Toten liegen in der Erde, so wie es im Gedicht "Verendeter Dachs" heisst: "Auf der Seite liegend, hingebreitet / Die Seele weg und etwas anderes." Grausam, erschreckend hingegen sind die Zeilen aus dem Spiegelgedicht: "ich tötete meine Mutter / fresse meine Kinder / Nur wenn ich krepiere / bin ich." Die dunklen, nie erklärlichen Seiten der Menschennatur werden in Worte gefasst. Der Trieb zum Töten - Muttermord, Vatermord, Brudermord -, Wagner wagt die Auseinandersetzung mit diesem Thema. Er schreibt das Paradoxe: "Kain... erschlug Abel... Kain stirbt einen langsamen Tod. Er lebt." Der Mörder stirbt einen langsamen und darum qualvolleren Tod. Er wird zum Leben verurteilt, zum Leben verdammt. Will das Gedicht nur dies sagen? Oder will es allgemeiner verstanden sein, im Sinne von: Alles Leben ist mit Schuld belastet.
Unter den rotstarrenden Augen der Angst entstehen solche Gedichte und ebenso die Verse, die erklären, es sei uns kein Retter geboren, der Heiland sei uns abhanden gekommen und auch der Wehland sei tot. Und die nüchterne Bemerkung: "Wir können auf niemand die Schuld schieben / ausser auf uns." Der Dichter sieht den Menschen, so wie er den Horizont einer Landschaft sieht: "... in gleichgültiger Mitte zwischen / Himmel und Erde, die sich unbekannt sind." Wagner erinnert sich an Büchner und paraphrasiert: "Geht durchs Gebirg. / Der Kopf streift den Himmel. / Und die Notwenidgkeit etwas zu tun. / Und die Unmöglichkeit etwas zu tun. / Und die Unmöglichkeit nichts zu tun." Die doppelsinnige Unmöglichkeit ist der Urgrund des Gedichts. Denn es ist ja nicht so, "dass die Gefühle ausgingen. / Nur: sie alle trogen schon einmal." Und dennoch: in poetischer Sprache äußerst sich nur, was der Dichter in seinem ganzen Wesen fühlt. Subjektives Empfinden drückt sich mittelbar aus. Da sind fünf ungleich lange Strophen, alles einfache Sätze, alle außer einem in der Ich-Form, unter dem Titel "Die Melancholie des Kapuzineräffchens". Die ersten Zeilen lauten: "Ich gehöre nicht dazu. / Mein Fell ist dünner, weicher / kaum zu begrauchen." Der Künstler ist ein Einzelgänger, auch er ist "ungeeignet zur Dressur", seine Haut ist dünner, weicher und sein Auge zu gross. Er lebt, weil er hofft, seine Heiterkeit und seine Bedrängnisse in die richtigen Worte übertragen zu können.

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