Selbstzensuren

Politisches Feuilleton im DeutschlandRadio Kultur, 12.12.06

Wenn es irgendeinen Sinn hatte, die Propheten Jesus Christus, Buddha und Mohammed auf einer Opernbühne köpfen zu lassen, dann den, daß sich daran, wenn auch nur kurzfristig, eine Diskussion über Zensur und Selbstzensur entzündete. Für jemand, dessen Sinn für diese Phänomene in der DDR geschärft wurden, als sie noch nicht die "ehemalige" war, ist es allerdings befremdlich, daß es dazu eines solch lächerlichen Anlasses bedurfte.
Allein unser schablonisierter Sprachgebrauch gibt Hinweise genug auf die verordneten und von der Mehrzahl willig akzeptierten Grenzen des öffentlichen Denkens. Nicht nur die DDR tritt kaum noch ohne das Attribut "ehemalig" auf, auch kein Politiker ohne die "Politikerinnen", kein Lehrer ohne die "Lehrerinnen", kein Sportler ohne die "Sportlerinnen" und besonders (denn auf diese kommt es an) kein Wähler ohne die "Wählerinnen". Das mögen Kleinigkeiten im Wettbewerb um die höchstmögliche politische Korrektheit sein, aber indem die Globalisierung immer mehr zu einer Weltinnenpolitik führt und sich die Ansprüche der daran Beteiligten an die deutsche Sprache häufen, entsteht ein Dschungel von sprachlichen Geboten, den gefahrlos zu durchqueren fast unmöglich geworden ist.
Der polnische Zwillingsregierung beispielsweise ist als neue Bedingung für ein "Zentrum gegen Vertreibung" eingefallen, daß in Bezug auf die Deutschen nicht von "Vertreibung" sondern von "Umsiedlung" die Rede sein soll. Sie kann dabei auf ein nicht sonderlich feines Gehör der Deutschen hoffen, denn einer der Kaczinskys konnte davon sprechen, daß alles, was mit dem Namen Steinbach verbunden ist, enden soll, ohne daß jemand den Mordaufruf zurückwies, der damit ausgesprochen wurde. Im Gegenteil, die Polenbeauftragte der Bundesregierung Gesine Schwan, immerhin einmal als mögliche Bundespräsidentin im Gespräch, tadelte die Berichterstattung deutscher Journalisten und machte sie für das schlechte Polenbild in der Öffentlichkeit verantwortlich.
Mit öffentlicher Zensurenverteilung durch Politiker beginnt die Zensur.
Eindeutiger liegt der Fall bei dem vom französischen Parlament verabschiedeten Gesetz gegen die Leugnung des Genozids an den Armeniern. Ein Staat verbietet die Verbreitung einer historischen Lüge, das ist sein gutes Recht. Ob es auch billig ist, ist eine andere Frage. Interessant ist dabei die Haltung türkischer Oppositioneller. Sie kündigten Protestmaßnahmen an, und das nicht aus gekränkter nationaler Ehre, sondern weil sie zu genau die Wirkung von Gesetzen kennen, die, aus was für ehrenwerten Gründen auch immer, die freie Meinungsäußerung beschränken. Mit Recht fragen sie sich: Warum soll das Leugnen des Völkermords an den Armeniern bestraft werden, nicht aber des an den Tutsi, den Krimtataren, den Ureinwohnern Nord- und Lateinamerikas, nicht das Bestreiten der millionenfachen Morde von Inquisition und Sowjetsystem? 
Als in der Bundesrepublik das Leugnen des Genozids an den europäischen Juden unter Strafe gestellt wurde, haben sich solche Stimmen nicht erhoben. Das Problem aber ist das gleiche: die Unbelehrbaren werden durch Gesetze nicht bekehrt, vielmehr können sie sich als Märtyrer ihrer angeblichen Wahrheit fühlen, Argumenten weniger zugänglich denn je. Ein solches Gesetz schützt die Wahrheit nicht, sondern bringt sie in Gefahr, indem sie sie zu einer von Tabus umstellten Zone macht, innerhalb derer nachzudenken zum Risiko wird. Die Frage etwa, ob nicht die Opfer des Kommunismus ein gleiches Recht auf den Schutz ihres Andenkens haben wie die Opfer des Nationalsozialismus, zieht zwangsläufig den Vorwurf der "Relativierung" nach sich, die zwar noch keine juristische, wohl aber eine gesellschaftliche Strafe nach sich zieht.
Das Bestreiten jeglicher Vergleichbarkeit des Genozids an den Juden begann mit einer Sprachreglung. Indem aus Völkermord und Vertreibung "der Holocaust" wurde, verabschiedeten sie sich aus der gesamtmenschlichen Geschichte. Die für Diktaturen bezeichnende Aufteilung der Welt in Bezirke des absolut Guten und des absolut Bösen wurde damit von ihren Gegnern übernommen und jeder rationaler Beurteilung zugunsten eines quasireligiösen Weltbildes entzogen. Entsprechend willkürlich oder von aktuellen politischen Erwägungen bestimmt sind die Grenzziehungen. Während gerichtlich geklärt wird, ob Hakenkreuze auch in durchgestrichener Form verfassungswidrig sind, blüht der Handel mit Hämmern und Sicheln, Stasiorden und Kampfgruppenuniformen.
Ist es bei einer derartigen Mischung aus Demagogie und guten Willen, Desorientierung, Schwäche und Aktionismus verwunderlich, daß auch die Gegner der Demokratie ihre Zensurforderungen an sie anmelden? Nicht erst bei Benedikt XVI. war es unerheblich, ob er seine Meinung oder die eines byzantinischen Kaisers widergab. Vorher stolperten Phillipp Jenninger im deutschen Bundestag, Buttiglione und Hohmann über die Unfähigkeit oder den Unwillen zwischen Zitat und eigener Aussage, zwischen Konjunktiv und Indikativ zu unterscheiden.
Wo der Staat sich zum Staatsanwalt macht, steht ein Heer von Denunzianten bereit. Sie sind das Fußvolk des Totalitarismus.